Henke Digital

Henke Digital 3.0 - Was ist Gothic?

05.11.2008 08:22 von Oswald Henke

Bei meinem ersten DJ-Abenteuer in der Schweiz wurde mir von einem eigenwillig gekleideten, sichtlich pikierten Menschen die Frage gestellt: "Was hat das Lied mit Gothic zu tun?" Es lief gerade "Coldplay". Meine Antwort: Was haben 60% der hier anwesenden Gäste mit Gothic zu tun? Was hat "Agonoize" mit Gothic zu tun?

Der Mann verschwand wortlos, vermutlich lag es daran, dass er keine wirkliche Antwort darauf wusste.
Ist Gothic inzwischen wirklich NUR noch aggressives Gestampfe mit inhaltsleeren, plakativen Texten? Ist die Toleranz innerhalb dieser Szene gegenüber anderen musikalischen Strömungen inzwischen wirklich so niedrig, dass man sich als DJ mittlerweile rechtfertigen muss, was man spielt? Mir scheint, es herrscht inzwischen schon fast ein musik-politischer Fraktionszwang, die einen hören NUR "Gestampfe" und ALLES ANDERE ist unhörbar, da "melodieverseucht", oder es wird nur DIE EINE ART gehört, da das ANDERE deren Konsumentenfraktion missfällt.
Eigentlich bin ich immer davon ausgegangen, dass kulturelle Vielfalt etwas inhaltlich bereichert, inzwischen fürchte ich, dass genau das Gegenteil von vielen aktuellen Szenegängern gewünscht wird, 4/4 Takt, böse Schlagworttexte die jeder versteht, auch jene mit einem unteren Bildungslevel, und klar definierte Rahmen was man gut bzw. nicht gut zu finden hat. Gruppenzwang der Neonfraktion, das scheinblutige Vampirkollektiv, die Mittelalterhüpfer und die Batcavefraktion, grenzen sich brav voneinander ab. Mischkonstellationen werden höchstens im privaten Rahmen geduldet, beim Knutschen, Küssen und Kopulieren.
Die EBM-Fraktion scheint inzwischen sowieso mehr oder weniger ausgestorben zu sein, überaltert, da Ü30, und somit dem Sofakollektiv zugehörig? Überhaupt fehlt inzwischen jene Generation, die auch mit Joy Division, Sisters, Cure und Depeche Mode groß geworden ist.
Schade eigentlich, aber wohl auch selbstverschuldeter Rausschmiss, denn wenn man nicht mehr weggeht darf man sich auch nicht wundern, dass Andere die freigewordenen Plätze einnehmen.

Szenerassismus ist eigentlich etwas Erschreckendes und steht eigentlich so gar nicht für das, wieso sich diese schwarze Szene irgendwann zusammengefunden hat. Ging es nicht darum sein "Anderes sein" mit Gleichgesinnten auszuleben und ein bestimmtes Lebensgefühl in Form von Kleidung, Musik und Intellekt zu vermitteln. Provokation war gewollt aber man reduzierte sich nicht NUR darauf zu provozieren sondern hatte auch eine Meinung und vor allem Geschmack. Das böse F-Wort tauchte nicht in jedem sogenannten Szenehit auf und war damals noch kein Garant dafür, einen scharzgekleideten Mob zum Tanzen zu bringen, oder wie auch immer man diese Art sich zu bewegen definieren mag. Was mir persönlich fehlt ist, dass sich das Publikum nicht mehr auf Stimmungen einlassen möchte, nicht mehr daran interessiert ist einen ganzen Abend zu erleben, sondern nur noch ein zeitlich begrenztes Abzappeln erwünscht ist. Möglichst unter Gleichgesinnten, sich selbst limitierenden Elitegruftis, die weniger Toleranz als Fallobst besitzen.

Oswald Henke

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